von Thomas Günter

Liebes Tagebuch, nun ist es ja so, dass ich, das Privattier, Autor, Kurator kläglicher Kalamitäten, mit den Kötern die letzten warmen Tage dieses so merkwürdigen Jahres mit ausgedehnten Spaziergängen verbringe.
Das von uns bevorzugte boreale Gelände, gelegen in dem riesigen zusammenhängenden Waldgebiet der Hauptstadt, Grunewald geheißen, überzeugt den Fiffiausführer vor allem durch den Umstand, dass die Töle, der Canis familiaris, ohne Leine, Gurt, Kette oder sonstige Limitation des Bewegungsdranges, vergnügt und ausgelassen der allgemeinen Beschäftigung, zu der so ein Haushund überhaupt noch in der Lage ist, unterfordert und gelangweilt wie sie nun mal sind, nachgehen kann.
Ausnahmslos alle unsere beschützten vierbeinigen Caniden kommen in ihrer Entwicklung über das Stadium des erweiterten Welpendaseins nicht hinaus.
Das liegt in erster Linie daran, dass die Köter sich um nichts, vor allem nicht um die Nahrungssuche, kümmern müssen. Der trockene Schlafplatz für die Nacht befindet sich meist in Herrchens oder Frauchens Arm, wer benutzt die Fellnase nicht gerne als ausgiebigen Radiator in heißen Sommernächten, und Spielzeug ist durchweg in überbordender Menge vorhanden.
An irgendetwas erinnert mich dieses gerade schriftlich gezeichnete Bild. Also nicht der Anblick des in der Ellenbeuge schlafenden Viehs, das durch sein disneyeskes Schnarchen den eigenen Schlaf erfolgreich unterbindet, sondern die Tatsache, dass Verantwortung für das eigene Leben immer weiter abgegeben werden soll, freiwillig wird und auch anscheinend noch die letzten selbstbestimmten Handlungen doch nur protektioniert und gesteuert sind.
Da wabert vor meinem inneren, dem geistigen Auge, der Imagination, der ungebremsten Vorstellungskraft, der weitschweifenden Phantasie das Bild eines vollkommen aus der Rolle gefallenen Kindergeburtstages auf, bei alle nur noch, wie in einem Zuckerschock, von der Tarantel gebissen, außer Rand und Band durcheinander rennen und ein jeder nur noch der eigenen Stimme lauscht, die einzig und allein einen Satz kennt: Ich will aber!
Die Infantilisierung einer ganzen Gesellschaft scheint uns ins Haus und auch den Garten zu schneien.
Obgleich doch eigentlich das Volk der Souverän sein sollte, gebärden sich die gewählten Vertreter wie absolutistische Landesväter, die ihre schützende Hand, scheinbar gütig, über den Häuptern ihrer Schutzbefohlenen ausbreiten.
Eine recht erstaunliche Umkehr des Machtgefüges, das aber offenbar von beiden Seiten kritiklos akzeptiert wird.
Oder korrumpiert die Lobbyarbeit die politische Kaste so sehr, dass sie jedwede Bodenhaftung, jeden Bezug zur Nachbarschaft, alles Pflichtgefühl, das sie per Eid einst schworen, mit vollgestopften Taschen einfach über Bord geworfen haben?
Und sind dann die Bürger eines Staates bereits so sehr in die Rolle des Bedürftigen geschlüpft, dass sie klaglos alle Entscheidungen der Administration hinnehmen, ohne sie in irgendeiner Weise zu hinterfragen?
Diese und ähnliche Überlegungen, die mich, das Privattier, Autor, Dichter dichotomer Dateien, bei den Wanderungen, nicht durch die Mark Brandenburg, ich wage den Vergleich mit Fontane hier nicht, sondern nur in den diversen Bereichen der Hauptstadt, in denen es unkompliziert machbar ist, den Köter, ohne allzu straffe Führung die olfaktorischen Reize in vollem Umfang genießen zu lassen, umtreiben, veranlassen mich ebenso ein ums andere Mal, den Pfad der Launigkeit zu verlassen, und diese doch ernsteren Gedanken in diversen Datenspeichern niederzulegen.
Vielleicht, aber nur vielleicht, so hege ich die stille Hoffnung, die dennoch ein ums andere Mal enttäuscht wird, gleich dem Spiel der Zahlen bei der Lotterie, gelingt es mir, den einen oder anderen aus der ausufernden Menge meiner Leser- und Hörerschaft, die mich dereinst auf breiten Schwingen zur Weltherrsch …, zum Nachdenken anzuregen, über die gesellschaftlichen Transformationen, die wir, in unseren Tagen, katalysiert durch die Angst und Panik, die gerade vorherrscht, nachzusinnen, und dabei, besser damit seine eigenen Schlüsse zu ziehen.
Der Voltaire zugeschriebene Satz: Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen, scheint heute zu kompletter Bedeutungslosigkeit verkommen zu sein. Die, die die Meinungsfreiheit eigentlich vertreten sollten, schreien, diejenigen, die anderer Ansicht sind, am lautesten nieder.
Gleich dem Gequengel auf einem Spielplatz: Mit Dir spiel ich nicht mehr, Du rutschst die Rutsche schneller hinunter!
So viel zur Aufklärung, die in unseren Tagen offenbar vergessen worden ist.
Aber auf welche Weise soll denn auch ein Diskurs, eine echte, auch emotionsgeladene Auseinandersetzung, noch stattfinden, wenn alle in ihrer identitären Blase, eingemauert von den eigenen Wünschen und dem Willen sowie der Forderung, dass diese umgehend umgesetzt werden, stattfinden können.
Da lob ich mir meine Tölen.
Obwohl sie durch den menschlichen Protektionismus weitestgehend in ihrer Entwicklung eingeschränkt sind, funktioniert die Dynamik der Auseinandersetzung dennoch trefflich zwischen ihnen. Da wird mal kurz gezickt, geknurrt, auch die Zähne werden gezeigt, bei dem einen sicherlich beeindruckender als beim anderen, mir wollen da zwei einfallen, der eigene Italolappen mit frappanten Dentes caninus, und ein häufig von uns getroffener und bespielter kleiner Chihuahua, dessen Maulöffnung kaum ausreicht, um dargereichte Belohnungen aufzunehmen. Kaum ist die Meinungsverschiedenheit geklärt, herrscht umgehend eitel Sonnenschein. Und wehe ein dritter Unbekannter, kommt dem kleinen Kerl zu nahe, dann besteht sofort Einigkeit. Auch wenn, oder gerade weil die Interessenlage beider Köter durchaus unterschiedlich angesiedelt ist.
Wenn ich so danebenstehe, meinen bescheidenen Gedanken nachhänge, versuche sie zu ordnen und zuweilen eine etwas radikale Lösung für das Problem der grundsätzlichen Existenz dieser haarlosen Primaten blitzlichtartig durch den Geist flitzt, die ich als böse Gedanken umgehend fortwische, frag ich mich, wann sind wir falsch abgebogen und haben den Pfad der Gemeinsamkeit verlassen?
War’s als wir die ersten festen Siedlungen errichteten, war’s als das Geld in die Welt gelangte oder war’s schon, als wir die Bäume verließen und uns aufmachten, den gesamten Planeten zu erobern?
Antworten darauf mag es viele geben, doch keine will mir so richtig konvenieren, da sie immer nur einen Teilaspekt beleuchten kann.
Vielleicht findet ja eine der zukünftigen Generationen, so es sie noch geben wird, eine für das Gros befriedigende Antwort darauf, die die sich »Z« nennt, wird es sicherlich nicht sein.

Schönen guten Abend.